Peter Wesely ist Geschäftsführer des österreichischen Vereins „Wirtschaft für Integration“. Außerdem ist er Pressesprecher des ehemaligen Flüchtlingskoordinators der österreichischen Bundesregierung Christian Konrad, der 2018 die zivilgesellschaftliche Allianz „Menschen.Würde.Österreich“ initiiert hat, und war Pressesprecher der Caritas der Erzdiözese Wien und der Raiffeisenlandesbank NÖ-Wien sowie im Vorstand der Online-Plattform „Medien-Servicestelle Neue Österreicher/innen“.
Können Sie zu Beginn erklären, wieso die Kattunfabrik ein Good-Practice-Beispiel in puncto Arbeitsmarktintegration ist?
Das lässt sich gut durch die Entwicklung des Projektes beantworten: Zu Beginn ging es um die konkrete Hilfestellung, also darum, dass Leute durch die Flucht ihre kaputte Kleidung reparieren konnten. Es folgte die Erkenntnis, dass viele Frauen und Männer aus ihrem Heimatland irrsinnig viele Kenntnisse mitbringen. Die Kattunfabrik hat sehr schnell erkannt, dass man bei diesen mitgebrachten Fähigkeiten direkt ansetzen kann. Hier gab und gibt es eine große Wachheit der Initiatoren. Sie haben sich sehr gut überlegt, wie gerade in der Wartezeit des Asylverfahrens die Kenntnisse weiterentwickelt werden können. Hinzu kommt, dass sie auch kreativ bei der Entwicklung von Produktlinien sind, und zum Beispiel durch ihre Stofftiere eine Möglichkeit gefunden haben, größere Stückzahlen zu produzieren und zu verkaufen. Letztlich ist damit auch ein unternehmerischer Aspekt für alle Beteiligten möglich.
Und allgemeiner gefragt: Welche Punkte sind zentral, um arbeitsmarktbezogene Maßnahmen sinnvoll umzusetzen?
Ich denke, dass zwei Ebenen sehr wichtig sind: Das eine ist zu schauen, welcher Bedarf auf dem österreichischen Arbeitsmarkt vorhanden ist. In welchen Berufsbildern gibt es eine Zukunft? Dazu zählen auch Ausbildungsmöglichkeiten, die in anderen Ländern nicht bekannt sind. Man sollte junge Menschen zum Beispiel über die Lehre, die duale Ausbildung, informieren. Diese ist in Österreich selbstverständlich, aber in vielen Teilen der Welt nicht. Der zweite Punkt ist, dass man auf die vorhandenen Fähigkeiten fokussieren muss. Das betrifft auch soft skills, die mit den herkömmlichen Rastern von Personal-Verantwortlichen nur bedingt erkennbar sind: Wie muss ich in einem Evaluierungs- oder Bewerbungsgespräch fragen, um die Erfahrungen, die auch durch die Flucht gemacht wurden, zu erkennen? Damit meine ich die Weiterentwicklung kommunikativer Fähigkeiten, Widerstandsfähigkeit, das große Wort der Resilienz, Teamfähigkeit, interkulturelle Kompetenzen, Bewusstsein für Internationalität, neben vielen anderen Fähigkeiten, die für ein Unternehmen in Österreich sehr förderlich sein können. Außerdem muss man sich bewusst sein, dass es möglich ist. Drei Jahre nach der großen Fluchtbewegung liegt Österreich laut dem Arbeitsmarktservice (AMS) in der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten über den Erwartungen. Auch die positiven Erfahrungen mit Geflüchteten, die immer wieder als Problem-Gruppe bezeichnet werden, wie jene aus Afghanistan, stehen im Kontrast mit dem, was in der öffentlichen Diskussion sichtbar ist. Gerade bei jungen Afghanen und Afghaninnen erlebe ich einen wahnsinnigen Bildungshunger, da sich diese Menschen aufgrund ihrer Lebenserfahrung oftmals sehr für die Gestaltung ihres Lebens einsetzen. Sie sind geprägt vom Kampf ums Überleben. Sterben und Mord sind ihnen in ihrem Leben, in ihrer Familie sehr nahegekommen. Nun wollen sie mit ganz viel Kraft und Willen etwas aus ihrem Leben machen. Das zu erkennen, ist ein wichtiger Punkt. Ebenso wie die Erkenntnis, dass niemand freiwillig diesen Weg der Flucht wählt. Wir haben es mit Menschen zu tun, die trotz vieler negativer Erfahrungen immer wieder neu anfangen. Daher wäre es auch förderlich, wenn man schon während des Asylverfahrens Erfahrungen mit dem Arbeitsmarkt in Österreich sammeln könnte. Es gibt sehr viele schnelllebige Branchen. Ein Asylverfahren, das eine Person ein, zwei Jahre – manchmal auch länger – zum Warten und zur Untätigkeit verurteilt, ist schädigend für Fachkompetenzen. Diese verordnete Untätigkeit ist eine Verschwendung von Lebensenergie, von individuellen Ressourcen, aber auch von Ressourcen für die Volkswirtschaft.
Welche Forderungen haben Sie an die Politik, damit diesen Problemen entgegengewirkt werden kann?
Es braucht einen politischen Willen. Die aktuelle Diskussion, ob man asylsuchende Lehrlinge abschieben kann, zeigt das pure Unverständnis der politischen Verantwortlichen – auch für unternehmerisches Denken. Ein österreichisches Unternehmen sucht einen Lehrling und konnte erst durch die „damals neuen gesetzlichen Bestimmungen“ Asylwerbende aufnehmen und dadurch tolle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden. Dann kommt der österreichische Staat und sagt „Pech, dass du jetzt schon ein oder zwei Jahre mit deinem neuen Lehrling zufrieden bist, wir schieben den jetzt ab. Such doch bei den Asylberechtigten“. Vergessen wird, dass ja schon unter Asylberechtigten gesucht, aber keine passende Besetzung gefunden wurde. Der politische Unwille hier ist eigentlich unfassbare Dummheit. Hier braucht es ein Umdenken. Außerdem muss man Wege finden, um die deutsche Sprache gut erlernen zu können – und zwar auch schon während des Asylverfahrens und auf einem Level, das nicht nur A1 und A2 sicherstellt. Gerade höherqualifizierte Geflüchtete müssen die Möglichkeit haben, Deutsch auf B1, B2 und C1-Level zu erlernen – am besten in Verbindung zwischen Arbeit und Deutschkurs. Viele höherqualifizierte Geflüchtete arbeiten in einem Beruf unter ihren Qualifikationen, weil die Deutschkenntnisse noch nicht reichen und sie trotzdem den Lebensunterhalt und zusätzlich einen Deutschkurs finanzieren müssen. Ein weiterer Punkt ist die Mobilität: Wenn jemand beispielsweise für die Tourismus-Branche qualifiziert ist und dort auch arbeiten will, wäre es sinnvoll, wenn diese Person von Anfang an in einer Unterkunft im Westen Österreichs lebt, an Orten, an denen es Bedarf in diesem Bereich gibt. Lasse ich diese Person im Osten oder in Regionen, in denen es keine Jobaussichten gibt, fühlt sie sich dort vielleicht schon beheimatet, aber hat keine Zukunft am Arbeitsmarkt oder sie geht nach Wien – wobei auch Wien ein nicht so breites Angebot an freien Arbeitsstellen hat. Ein weiterer Punkt ist, dass Integrationsprojekte in Österreich oft sehr kleinteilig sind. Aufgrund politischer Aussagen der jüngsten Zeit, fürchte ich, dass gelingende Projekte nicht mehr in dieser Form weitergeführt werden können.
Die Kattunfabrik will verstärkt die Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Frauen vorantreiben. Was benötigt es Ihrer Meinung nach, um Frauen zu fördern?
Die Arbeitsmarktintegration von Frauen ist nicht nur für die Frauen selbst, sondern für die Integration der gesamten Familie wichtig – und wir können davon ausgehen, dass 60 bis 70 Prozent der Frauen mit der Familie nach Österreich gekommen sind. Gelingt es, Frauen zu ermächtigen, hat das Auswirkungen auf ihr persönliches Selbstverständnis, auf ihr Selbstbewusstsein, auf ihren Status innerhalb der Familie, auf ihr Verhältnis zu ihrem Partner, auf das Rollenverständnis von Geschlechtern, das sie den Kindern weitergibt. Daher ist es wichtig, für diese Zielgruppe Programme zu entwickeln. Man muss sich überlegen, welche Kurszeiten angeboten werden, damit die Obsorge für Kinder, die möglicherweise in die Schule gehen, sichergestellt ist. Für Kleinkinder muss es parallel zu den Kursen eine Betreuung geben. Bei all diesen Themen könnte man auf Erfahrungen aus anderen Bereichen der Arbeitsmarktverwaltung und der damit zusammenhängenden Kurse zurückgreifen, da es bereits Projekte für Mütter mit Kleinkindern gibt.
Zum Schluss würde ich noch gerne auf die Rolle der Unternehmen eingehen. Wird vonseiten der Unternehmen genug gemacht, um Menschen unterschiedlicher Herkunft den Arbeitsmarkt zugänglich zu machen?
Ich glaube, dass sich bei Unternehmen in den vergangenen Jahren eine große Bereitschaft gezeigt hat. Unternehmen, die Geflüchtete als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angestellt haben, machten überwiegend positive Erfahrungen. Allerdings müssen wir uns bewusst sein, dass es auch in Zeiten einer Hochkonjunktur regionale Unterschiede gibt. Im Osten Österreichs, im Großraum Wien gibt es nach wie vor nicht genügend freie Stellen in allen relevanten Branchen. Hier muss man durch Mobilität steuern. Außerdem sollten sich Unternehmen überlegen, ob sie Geflüchtete bei der Suche oder sogar bei der Finanzierung einer Wohnung unterstützen können. Für einen Lehrling, der aufgrund des Ausbildungsplatzes von Wien nach Tirol zieht, wird es schwierig, sich eine Wohnung zu finanzieren. Da benötigt es Wege vonseiten der Wirtschaft. Gleichzeitig müssen die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden. Unternehmer oder Unternehmerinnen, die sich aufgrund der derzeitigen politischen Diskussion nicht sicher sein können, ob potentielle Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen auch noch in zwei Jahren in Österreich sein dürfen, werden sich überlegen, ob sie Geflüchtete einstellen.