
Noch sind ältere Migrant*innen eine relativ kleine Gruppe in Wien. Künftig wird Migration und Alter jedoch ein wichtiges Thema sein, das Wien im Bereich Betreuung und Pflege vor Herausforderungen stellt. Wie bewerten Migrant*innen in Wien ihr eigenes Älterwerden und die derzeitige Situation von Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen? Wie sieht es mit ihrem Informationsstand aus? Welche Barrieren gibt es im Pflegebereich, welche Erwartungen gibt es vonseiten der Migrant*innen? Diese und weitere Fragen werden im Rahmen der von der MA24 herausgegebe Studie „Einfluss der Migration auf Leistungserbringung und Inanspruchnahme von Pflege- und Betreuungsleistungen in Wien“ behandelt, in der Migrant*innen aus fünf verschiedenen Herkunftsgruppen (Türkei, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Polen, Iran) befragt wurden.
Bis 2040: Über eine halbe Million über 60
Die Studie geht davon aus, dass die Zahl der Älteren in Wien in den nächsten Jahren deutlich zunehmen wird: Von derzeit rund 396.000 Personen, die über 60 Jahre sind, auf etwa 530.000 im Jahr 2040. „Diese Alterung ist in hohem Maße auf die dynamische Bevölkerungsentwicklung zurückzuführen, von der Wien seit den 1900er Jahren erfasst ist, d.h. die prognostizierte demographische Entwicklung betrifft in hohem Maße die Bevölkerung ausländischer Herkunft“, heißt es in der Studie.
Bis 2030 wird es laut Hochrechnungen insbesondere bei Personen, die in Serbien, Bosnien-Herzegowina und der Türkei geboren wurden, eine Steigerung der 60plus-Jährigen geben. Langfristig (bis 2040) nimmt die ältere Bevölkerung aus Ostmitteleuropa (Polen, Rumänien, Bulgarien, Slowakei) zu.
Mehrheit will im Alter in Wien bleiben
Eine deutliche Mehrheit der Befragten gibt an, im Alter in Wien bleiben zu wollen. Nur acht Prozent sagen, dass sie nicht in Österreich bleiben wollen. 56 Prozent wollen auf jeden Fall in Wien bleiben. Insbesondere Personen aus der Türkei und dem Iran haben vor, auch künftig in Wien zu leben. Dementsprechend empfinden nur sechs Prozent negative Gefühle, wenn sie an das Älterwerden in Österreich denken. 42 Prozent blicken mit positiven Gefühlen auf das Älterwerden in diesem Land, 28 Prozent haben gemischte Gefühle.
Als positive Aspekte werden dabei das Sozial- und Gesundheitssystem (155 Nennungen), Sicherheit und Stabilität (46 Nennungen), Ordnung (42 Nennungen) sowie die Familie, die in Österreich lebt (40 Nennungen), genannt. Bei den negativen Aspekten dominieren Heimweh (37 Nennungen), Einsamkeit (29 Nennungen) und die Abwesenheit von Familie und Freund*innen (17 Nennungen).
Migrant*innen leiden häufiger an chronischen Erkrankungen
Gefragt wurde auch nach der subjektiven Beurteilung des Gesundheitszustandes. Am häufigsten bewerten die Befragten ihre Gesundheit mit „ab und zu Beschwerden“ (39 Prozent). 24 Prozent berichten ebenfalls von Beschwerden, die ab und zu auftreten, aber durch die notwendige ärztliche Behandlung zusätzlich an Gewicht bekommen. Von chronischen Erkrankungen, die ärztliche Behandlungen benötigen, berichten 15 Prozent. Vier Prozent sind auf Hilfe und Pflege angewiesen. Überdurchschnittlich oft berichten Personen aus Serbien und der Türkei von chronischen Erkrankungen.
Jede*r Fünfte hat sich über Pflegeangebote informiert
21 Prozent der befragten Personen haben sich bereits über Pflege- und Betreuungsangebote in Wien informiert, zu einem großen Teil (67 Prozent) waren es Frauen. Zurückgegriffen wird dabei meist auf Freund*innen, Bekannte bzw. Familie und Verwandte. Eine ähnliche hohe Rolle spielt der Hausarzt bei der Beschaffung von Informationen. 27 Prozent jener Personen, die sich noch informieren wollen, wissen nicht, wo sie das tun sollen.
Bezüglich der möglichen Inanspruchnahme von Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen gibt es ein hohes Maß an Unsicherheit und Ungewissheit bei vielen Migrant*innen. So wurden viele Fragen zu Befürchtungen und Problemen mit „weiß nicht“ beantwortet. Bei der Frage, ob befürchtet wird, dass die Angebote den Bedürfnissen nicht entsprechen werden, antworteten 27 Prozent mit „weiß nicht“ (30 Prozent stimmen der Aussage zu).
Die größte Zustimmung gab es bei der Befürchtung, dass die Angebote zu teuer sind (52 Prozent), gefolgt von der Befürchtung, zu wenig Bescheid zu wissen (44 Prozent). Zudem stimmten jeweils 35 Prozent dem Problem zu, Papiere nicht zu verstehen bzw. etwas falsch zu machen. Vergleichsweise wenige stimmen dem Problem zu, dass ihre Werte und religiöse Überzeugungen in den Einrichtungen nicht berücksichtigt werden (16 Prozent) oder dass sie diskriminiert werden könnten (19 Prozent).
Betreuung in eigener Wohnung bevorzugt
Gefragt nach dem Ort, an dem man im Falle einer Pflegebedürftigkeit leben möchte, bevorzugt der Großteil der Befragten das Bleiben in der eigenen Wohnung mit einer Betreuung durch mobile Dienste (68 Prozent) bzw. durch die Familie oder Verwandte (50 Prozent). Geringer ist der Anteil jener, die in der eigenen Wohnung von einer professionellen, zu zahlenden Betreuung gepflegt werden will (32 Prozent).
39 Prozent können sich vorstellen, in eine für alle offene Einrichtung zu ziehen, etwas weniger (31 Prozent) bevorzugen eine Einrichtung speziell für Landsleute. Die Bereitschaft, in eine stationäre Einrichtung zu ziehen, sinkt laut Studie durch gemachte Diskriminierungserfahrungen und der Angst vor Einsamkeit im Alter. Nur für wenige Personen ist es eine Option, im Falle einer Pflegebedürftigkeit in das Herkunftsland zurückzukehren (17 Prozent).
Kulturelle Aspekte bei Pflegeangeboten nebensächlich
Bei den Erwartungen an etwaige Pflegekräfte dominieren universelle Erwartungen und Wünsche: So sind den Befragten Faktoren wie Respekt (96 Prozent), Verständnis (90 Prozent) und Ausbildung (80 Prozent) am wichtigsten. Am unteren Ende der Liste finden sich die Punkte muttersprachliche Betreuung (47 Prozent), gleiches Geschlecht (46 Prozent) und gleiche Volksgruppe (26 Prozent).
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Erwartungen an ein PensionstInnen-Heim: Ganz oben stehen Wünsche wie Geborgenheit (91 Prozent), gute Nachbarschaft (90 Prozent), Ruhe und Naturnähe sowie ein Ort des Rückzugs und der Intimität (jeweils 88 Prozent). Kriterien, die sich auf die Herkunft oder die Religion beziehen, sind am unteren Ende der Liste zu finden: 39 Prozent wünschen sich Gebetsräume, 37 Prozent erwarten ein Umfeld aus verschiedenen Kulturen, Sprachen und Religionen.
Handlungsempfehlungen: Zielgerichteter Informationszugang und integrative Angebote
Neben der Notwendigkeit einer ein- und ganzheitlichen Strategie im Umgang mit Diversität und Migration in der Pflege lassen sich laut Studie folgende drei zentrale Handlungsempfehlungen ableiten:
Zielgerichteter und persönlicher Zugang zu Informationen: Informationen sollen so aufbereitet werden, dass sie den lebensweltlichen Realitäten der Migrant*innen entsprechen (Sprache, Bildung, Anpassung an Bedarfs- und Problemlagen, etc.). Die Informationen sollen dabei nicht nur in Form von Broschüren aufgelegt, sondern durch „Mittelspersonen“ an die Menschen gebracht werden.
Schaffung inklusiver und integrativer Angebote: Durch die Ergebnisse sei klar geworden, dass (teil-)stationäre Einrichtungen nicht auf Segregation ausgerichtet sein dürfen. Empfohlen wird stattdessen, im Rahmen der bereits bestehenden Regelangebote Wohneinheiten für bestimmte Migrant*innen- bzw. Milieugruppen zu schaffen. Zudem sprechen sich die Autor*innen der Studie für ein mehr- bzw. muttersprachig kompetentes Personal in den Einrichtungen aus.
Zugang zu Bildung im Pflegebereich erleichtern: Eine weitere zentrale Empfehlung ist ein verbesserter Zugang von Migrant*innen zu Pflegeberufen. Konkret sollen strukturelle Hindernisse in der Ausbildung abgebaut und Rollenvorbilder gezielt geschaffen werden. In der Ausbildung selbst müssten verstärkt Kurse im Bereich der transkulturellen Pflege angeboten werden. Trägerorganisationen in der Pflege sollen zudem Mitarbeiter*innen mit entsprechendem Sprachkenntnissen und inter- sowie transkulturellem Know-How einstellen.